Warum trifft man am Brett, bzw. derzeit ja am Monitor, mit wegtickenden Sekunden mitunter die falsche Entscheidung? Mitunter kann man das im Nachhinein erklären, und dann passiert es vielleicht in ähnlicher Situation nicht nochmals. Sofern man denn lernfähig ist – und ich bin zwar im fortgeschrittenen Schachalter, aber als Internet-Blitzer noch relativ jung (vor Corona machte ich das nur sporadisch). Zwei Beispiele, zwei Abende in Quarantäneliga 9, oberes und unteres Ende des Elo-Spektrums das ich da vorgesetzt bekomme.
Generell betrachte ich meine Partien direkt noch mit Computerhilfe, und dann ist es manchmal schon fast Mitternacht – Nachbetrachtung dauert genauso lang oder länger als die 100 Minuten Spielzeit! Überraschungen gehören dazu: gängig ist, dass beide einiges nicht gesehen hatten. Was auch vorkommt, allerdings seltener: Ein Sieg, bei dem ich während der Partie dachte „keine Ahnung was hier eigentlich los ist“, war laut Engines ziemlich „souverän“.
Und nun hinein ins Geschehen:
irinabodrova (1723) – thomasrich (2013) nach 34.c5
Was ist hier denn los, welcher Freibauer ist gefährlicher? Nach 25 von 87 Restsekunden wählte ich den Remisweg 34.-Kf8? 35.c6? (35.Lb7!) 35.-Ke7? 36.c7 Kd7 37.Lb7 Kxc7 38.Lxa6 usw. – ein paar Züge machte ich noch und bot dann Remis (das kann Schwarz nicht mehr gewinnen, aber mit 20 Sekunden weniger auf der Uhr durchaus noch auf Zeit verlieren).
Angedacht aber verworfen hatte ich, den c-Freibauern mit dem Läufer zu kontrollieren – auch auf Kosten des Läufers, aber das war siegbringend. Eine Möglichkeit analog zur Partie: 34.-a5! (so wie sie spielte, ging das auch noch im 35. Zug) 35.c6 Kf8 36.c7 Ld7 37.Lb7 a4 38.c8D Lxc8 39.Lxc8 a3
und Weiß hat nur vorübergehend eine Mehrfigur – wichtig, dass Schwarz auf f7 einen weiteren Mehrbauern hat. Bei der blinden Analyse (liegend im Bett mit geschlossenen Augen) bereitete mir in dieser Variante noch 38.Lc6!?? gewisse Kopfschmerzen – aber das geht ja gar nicht, dank lange zuvor in der Partie 15.-Db6+ 16.Kh1 Dxb2 (ab hier hatte ich einen gesunden Mehrbauern).
34.-Lb3 oder 34.-Ld7 (und dann teils ähnliche Motive) gewinnt übrigens auch, schon deshalb ist es doch keine „Endspielstudie in einer praktischen Partie“. Vielleicht trotzdem studienartige Wendungen. Mein Bremer Schachfreund FM Olaf Steffens (mir aus gemeinsamen Kieler Zeiten bekannt) hatte ja auf schach-welt.de einige Endspielstudien gezeigt – das ist die vierte, bisher waren es vor allem Turmendspiele.
Ich bin oft auch – jedenfalls im Nachhinein – neugierig, gegen wen ich eigentlich im Internet gespielt habe. In diesem Fall konnte ich es herausfinden: irinabodrova von Shinkarovteamchess aus Нижний Новгород (Nizhny Novgorod) ist wohl Irina Bodrova – Russin Jahrgang 2007, reale Elo 1147. Dafür hatte sie die Partie recht sauber angelegt, eben russische Schachschule? Auch wenn ich zuvor schon mindestens einen Elfmeter verschossen hatte – das ist die komplette Partie.
Bei Gegnern mit Lichess-Niveau ca. 1700 habe ich immer gemischte Gefühle – da „muss“ man ja gewinnen!? Manchmal sind sie durchaus kooperativ, spielen bereits die Eröffnung schlecht, stellen „brav“ eine Figur ein oder übersehen z.B. Dh7#. Da ist der Spassfaktor überschaubar – vor allem wenn sie total verlorene Stellungen endlos weiterspielen. Aber es sind zwei, bei einer Siegesserie auch mal vier Punkte für die Mannschaft. Manchmal zeigen sie nicht direkt, warum sie schlechter sind, und man muss selbst zeigen dass man besser ist. Und manchmal gewinnt man auch nicht – schließlich habe ich gegen ca. 300 Punkte bessere Spieler auch mehr als 0%.
Ein Beispiel war der versöhnliche Abschluss eines recht durchwachsenen Abends: Sieg gegen den Berserker HighPingAbuser (2445). Das mal nur kurz beschrieben: zunächst war es etwa ausgeglichen und ich behielt Vorteil auf der Uhr, nachdem seine Zeit knapp wurde bekam ich Oberwasser. Am Ende überraschte er mich: nicht die Bedenkzeit ablaufen lassen, sondern mit noch 0,5 Sekunden aufgeben. Auch er verrät den Klarnamen: Martin Hartmann aus Pforzheim, Jahrgang 2000, Elo immerhin 2130 (auf Lichess ja oft deutlich mehr). Das ist nun mein zweitbester gewerteter Sieg auf Lichess, nach wie vor hinter dem usbekischen GM Barsov.
Aufgestiegen sind an diesem Abend Schachclub Pforzheim 1906 (u.a. 12.5/16 von HighPing Abuser), Shinkarovteamchess und ZSKA Ebersberg. Drei Aufsteiger aus Süddeutschland war wohl zuviel, also landete Tarrasch im gesicherten Mittelfeld.
Drei Tage später war ich nahe am Sieg gegen einen nominell starken Gegner, am Ende dann nullkommanull Sekunden und dadurch null Punkte. Die entscheidende Partiephase:
Eleorema (2323) – thomasrich (2005) nach 22.Da4
Auch der Pessimist thomasrich dachte hier „Schwarz steht gut“. Ist Damengambit (spiele ich normalerweise nicht, hier entstand es nach 1.c4 e6 2.Sc3 d5 3.d4) so eine tolle Eröffnung? Nun, Weiß machte sicher einiges falsch, und Schwarz wohl auch was richtig. Aber wie geht es weiter? Am Damenflügel dominiere ich aber kann eher nicht ernten, also ein Flügelwechsel:
23.-Txf3??! 24.gxf3?? Er glaubt mir aufs Wort, 24.Dxc2 war besser. Wir schielten beide nur auf den Königsflügel? Die Idee war gut, die Ausführung suboptimal – ich musste das mit 23.-Lc6 vorbereiten. Möglich war auch zuvor 21.-T2c3 statt 21.-T8c3 – dann geht direkt 22.-Txf3 (und der andere Turm kann in einigen Varianten doch das „verbotene“ Feld c2 betreten). Es gab noch ein Problem: 27 Sekunden für diesen Zug – so etwas muss man vielleicht schneller spielen, ohne alles (bis auf 24.Dxc2) doppelt und dreifach zu überprüfen. 24.-Dg5+ 25.Kh1 Sf4 26.De8+ Kh7 27.Ld3+ Sxd3 28.Txd3 Txf2 28.Tg1
Und nun? Meine erste Idee war 28.-Txf3!!? (29.Txg5 Tf1 Doppelschach und Matt), schnell machte ich diesen genialen Zug. Hätte ich ihn mal nicht gesehen – dann hätte ich sicher 28.-Dh5 gespielt, aber jeder normale Zug mit der Dame war ausdiemaus. 29.d5 (oh, er zappelt noch) 29.-Df5 (kostete weitere 12 kostbare Sekunden) 30.Td4 Lxd5?! (aus blitzpraktischer Sicht, 30.-Tf1 beendet die Partie schneller) 31.Txd5 exd5 (immer noch 31.-Tf1) 32.Da4 Tf2 33.Dg4 Dxg4 34.Txg4 Txa2 – natürlich immer noch glatt gewonnen, aber die Uhr … wenig später Zeitüberschreitung von Schwarz.
Kurios auch: zwei Partien zuvor spielte ich gegen denselben Griechen. Da stand ich zunächst gut (sagen jedenfalls Engines, während der Partie war ich mir nicht so sicher), dann habe ich eine Figur eingestellt, dann erschummelte ich mir die Figur zurück, und dann habe ich in einem (diesmal remislichen) Turmendspiel die Bedenkzeit überschritten. Zweimal bekam Eleorema direkt nach mir GeorgeMichaelR – diese Partien kippten nur einmal, und zu seinen Gunsten.
Zwei Punkte fehlten am Ende zum Aufstieg in Liga 8 – die zwei, die ich in der zweiten Partie gegen Eleorema bereist „eingeplant“ hatte? Auch so konnte ich zur Aufholjagd beitragen – etwa bei Halbzeit befand sich Tarrasch in der Abstiegszone. Nach 2/9 von mir noch jedenfalls 5.5/9. Wie immer war SuperBoldi besser: zunächst 2.5/9, dann zehn Siege nacheinander. Am Ende waren wir dann gleichwertig, jeweils ein noch gewertetes Kurzremis Sekunden vor Turnierende (in meinem Fall um 21:40:59, gerade noch pünktlich).
So, das waren einige meiner Schwächen: Stellungen eher zu pessimistisch beurteilen (wobei das wie auch zu viel Optimismus Nach- und Vorteile haben kann?), zu langsam-zögerlich, und ich kenne zu viele taktische Motive?! Stärken habe ich vielleicht auch, aber das mögen andere beurteilen und man sollte sie vielleicht nicht auch noch öffentlich beschreiben. Schließlich können hier alle mitlesen, eventuell auch unsere Gegner, womöglich sogar Eleorema (der seinen Klarnamen nicht preisgibt): Ich schrieb ihn auf Englisch an, Antwort auf Deutsch: „Hallo Thomas, bis nächstes Mal!!“. Das ist bereits am Donnerstag, denn der Fast-Aufsteiger Tarrasch und der Fast-Absteiger Vardaris Chess Tournament Friends (da allerdings recht viel Luft nach unten) treffen in Liga 9A erneut aufeinander.
Natürlich können hier auch andere über eigene Erfahrungen in der Quarantäneliga berichten, am unterhaltsamsten sind wohl durchwachsene bis wilde Partien – dafür braucht man keinen GM-Titel, ich kann das (mit niedrigerer Erfolgsquote) auch!